Hölderlin in Bordeaux und seine Rückkehr nach Nürtingen

In diesem Vortrag, den Ulrich Lorenz-Meyer am 29. Juni 2008 als Gast bei Baronin Tessin im Schloss Kilchberg bei Tübingen gehalten hat, geht es um die Heimreise von Friedrich Hölderlin nach seiner Tätigkeit als Hauslehrer beim Konsul Daniel Christoph Meyer, dem Bruder unseres Vorfahren Johann Valentin Meyer.

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Zunächst zur Einleitung für diejenigen, die es noch nicht wissen sollten: Hölderlin ist Ende Januar 1802 bei dem in Bordeaux lebenden Hamburger Weinhändler und Konsul  Daniel Christoph Meyer und seiner Ehefrau Anne Marie Henriette, geborene Andrieu de Saint André eingetroffen, um dort als Hauslehrer oder, wie es auch heißt, Hofmeister deren Kinder zu unterrichten.

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Bereits nach drei Monaten hat er Bordeaux wieder verlassen und ist – zu  Fuß – nach Nürtingen, wo seine Mutter lebte, zurückgekehrt. Die Forschung hat bisher nicht herausgefunden, was der Grund für diesen sehr frühen Abbruch der Hauslehrertätigkeit und des Aufenthalts des Dichters in Bordeaux gewesen ist. Wegen dieses Rätsels ist auch die Familie Meyer bzw., wie sie in Hamburg heißt, Lorenz-Meyer Gegenstand der Forschung gewesen.

Kernstück meiner kurzen Darbietung soll der von mir vorgelesene eindrucksvolle Erlebnisbericht einer jungen französischen Adligen über eine Episode während der Rückwanderung von Hölderlin in seine deutsche Heimat sein.

Zuvor jedoch wenige Bemerkungen über meinen entfernten Onkel Daniel Christoph Meyer (1751 – 1818). Er war der jüngere Bruder meines Urururgroßvaters Johann Valentin Meyer, Weinhändler und Ratsherr in der Hansestadt Hamburg. In diese Hansestadt war 1724 aus Mainfranken Johann Lorentz Meyer, der gemeinsame Vater der beiden Brüder und Stammvater unserer Hamburger Familie, vermutlich Nachfahre eines alten Würzburger Rathsgeschlechts, im wahren Sinn des Wortes “eingewandert“. In der Mappe, die im Anschluss an meinen Vortrag herumgereicht wird, befinden sich Bilder  von Johann Lorentz Meyer und seiner zweiten Frau Catharina Maria geb. Kern, von denen wir abstammen.

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Wie die ebenfalls in der Mappe befindlichen Bilder von Daniel Christoph Meyer und seiner Frau zeigen, waren die Eltern der Kinder, die Hölderlin für die kurze Zeit von drei Monaten unterrichtet hat, ordentlich aussehende Bürger von Bordeaux, deren damaliges (heute noch vorhandenes) Wohnhaus im Zentrum der Stadt (Bilder davon, damals und heute, befinden sich auch in der Mappe) zeigt, dass sie der Oberschicht angehörten.

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Der Hamburgische Konsul Meyer besaß im Medoc in der Nähe des Flusses Gironde das Weingut Blanquefort, wo Hölderlin gewesen sein muss, denn sonst hätte er nicht davon erzählen können, wie Sie es noch hören werden, und hätte er nicht einige Zeit nach seiner Rückkehr in Nürtingen das wunderschöne Gedicht „Andenken“ verfasst, auf das ich am Ende meines Vortrags zurückkommen werde.

Weil sie mich amüsieren aber weil sie vielleicht auch Bedeutung für unser Thema haben, möchte ich die Schilderungen der Person und des Verhaltens von Daniel Christoph Meyer als jungem Mann wiedergeben, die in den handschriftlichen Lebenserinnerungen des Otterndorfer und Verdener Schulrektors Johann Christian Meier (1732 – 1815, nicht mit uns verwandt) stehen, der von 1770 bis 1774 als Hauslehrer den jüngeren Bruder des späteren Konsuls unterrichtete. Es beginnt mit einer Beschreibung der Mutter. Zitat (S. 656):

Der Charakter dieser sonst redlichen Frau und Mutter war eine starke Dosis von Hamburger Stolz und Eigendünkel. … Der mittlere (Sohn) hat sich in Frankreich besetzt, den ich nur einmal gesehen und gesprochen habe; er maitrisierte und hamburgisierte vollkommen. Ohne stolz und für sich eingenommen zu erscheinen, beantwortete er meine paar Fragen in solchen kurzen Bruchstücken, dass ich wohl sahe, dass meine Wenigkeit nicht nach seinem Geschmack war.

Und an anderer Stelle (S. 772):

Er übertrifft seinen‚ Bruder (Johann Valentin) noch in Ausbildung und in einer Art eines nicht gut zu beschreibenden Airs und ist dabei, wie sein Bruder, so gross, dass er weit über preußische Maßen hält … Solche Herren, denen ihr größtes Verdienst doch ihr Reichtum und ihre Kaufmannschaft ist, steigen in eine Höhe in ihrem Betragen, dass man immer blinzeln muss, um sie nicht zu verlieren. …

Vielleicht hat der feinfühlige Hölderlin Probleme mit dieser Art der Hamburger gehabt, aber im Jahre 1802 war Daniel Christoph Meyer inzwischen fast 30 Jahre älter und wahrscheinlich auch reifer geworden. Außerdem brauchte er für seine Kinder einen guten Hauslehrer und hat sich schon deshalb dem Dichter gegenüber sicher höflich und zuvorkommend verhalten. Im Übrigen hat der Konsul Hölderlin wenige Zeit später ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt.

Die Geschichte, die ich gleich verlesen werde, könnte Aufschluss geben über die Ursache für Hölderlins baldige Heimkehr aus Bordeaux nach Nürtingen.

Ich möchte Ihnen aber zunächst noch schildern, wie es dazu kam, dass ich mich für die Verbindung meiner Familie zu dem schwäbischen Dichter interessiert habe.

Bei dem entfernten Verwandten eines anderen großen Literaten, bei einem Grafen Kutusov-Tolstoy traf ich in Irland im Sommer 1966 eine junge Frau, die damals in Nürtingen lebte, in jenem Sommer jedoch die Heimat ihres irischen Großvaters kennen lernen wollte. Dorthin kam nämlich aus Hamburg auch ich, um meine Russischkenntnisse zu vertiefen. Die junge Dame meinte, ich sei ein geeigneter Lebenspartner für sie und schon begann ich zum Erstaunen meiner späteren Schwiegereltern nur wenige Wochen danach am alten Nürtinger Amtsgericht mit knirschenden Holzdielen und einem gusseisernen Böllerofen meine Ausbildung als Rechtsreferendar. Außerdem promovierte ich in Tübingen.

Nun zitiere ich aus meiner Aktennotiz vom 18. Oktober 1967, die ich betitelt hatte Auf Hölderlins Spuren:

Heute Vormittag musste ich aufs Nürtinger Bürgermeisteramt, um für die Universität Tübingen einige Zeugnisse beglaubigen zu lassen. Als ich dort war, fiel mir ein, dass sich im Nürtinger Rathaus ein Hölderlin-Archiv befindet. Ich beschloss, mich danach zu erkundigen, ob man es besichtigen könne, denn mich bewegte seit langem der Wunsch, Genaueres über des Dichters Aufenthalt als Hauslehrer bei dem Hamburger Konsul Meyer in Bordeaux, unserem Verwandten, zu erfahren.

An Fräulein Hummel im Vorzimmer des Oberbürgermeisters solle ich mich wenden, sagte man mir. Und diese Fräulein Hummel, eine nicht mehr junge, etwas beleibte, grauhaarige Dame empfing mich mit offenen Armen. Sie werde am kommenden Donnerstag zahlreiche Hölderlinverehrer durch das Archiv führen. Oh, ich könne daran nicht  teilnehmen, das sei aber sehr schade. Ob ich auch Hölderlinverehrer sei, wollte sie wissen. Ich nannte den Grund meines Interesses: Sie wisse doch sicher, dass Hölderlin in Frankreich gewesen und von dort in geistesumnachtetem Zustand nach Nürtingen zurückgekehrt sei. „Ja, ja, in gemütsbewegtem Zustand kam der Dichter aus Frankreich über die Neckarbrücke“, sie wusste genau Bescheid. Auch über all die Kenner und Gelehrten, die mir sicher Auskunft geben könnten; sie gab mir gleich mehrere Adressen. Ich solle doch einmal ins Hölderlinarchiv im Kloster Bebenhausen gehen, dort sei eine reizende alte Dame, sie wisse alles über den Dichter, sie wandle „auf Hölderlins Spuren“.

Man merkte schnell, dass Fräulein Hummel ebenfalls eine glühende Verehrerin des Dichters war, dass auch sie „auf Hölderlins Spuren“ wandelte.  So kam es, dass ich fast eine halbe Stunde bei ihr weilte, wir unterhielten uns über Hölderlin, als sei er ihr verstorbener Sohn. Am Ende bot sie mir ihre Zeitungsausschnitte zu treuen Händen für eine Woche zum Lesen an. Leider musste ich ablehnen, da ich ‚in diesen Tagen meine Zeit für ein Referat brauche’. So endete im Jahre 1967 mein Besuch in der Welt Hölderlins.

Und nun folgt die Geschichte über Hölderlin während der Rückwanderung von Bordeaux nach Nürtingen, die ich Jahre später in dem im Jahre 1959 von Eberhard Orthbrand unter dem Titel Das deutsche Abenteuer herausgegebenen Buch mit zitierten und erläuterten Erlebnisberichten aus der deutschen Geschichte entdeckt habe. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftlich geprüfte und kommentierte Abhandlung, ihre Glaubwürdigkeit wird deshalb sicher von einigen (nicht von allen) Literaturwissenschaftlern bezweifelt. Sie ist aber so ungewöhnlich und so lebendig erzählt, dass ich meine, sie ist es wert, von Hölderlin-Verehrern gelesen oder angehört zu werden, zumal die plötzliche Abreise aus Bordeaux durch diese Geschichte verständlich wird.

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Eine französische Adlige, von der nur bekannt ist, dass ihr Familienname de S … y (möglicherweise de Sacy oder de Savigny) lautete, hat im Jahre 1852 dem deutschen Schriftsteller Moritz Hartmann eine Jugenderinnerung berichtet, wie in der Nähe und im Park des Schlosses ihres Vaters in Frankreich eines Tages ein seltsamer, noch nicht alter aber auch nicht mehr junger Mann erschienen sei, sich dort kurze Zeit wie traumwandlerisch aufgehalten habe und dann über Nacht wieder verschwunden sei.  Es geschah im Jahre 1802 und es muss sich um Friedrich Hölderlin auf seiner Rückwanderung von Bordeaux nach Nürtingen gehandelt haben.

Der Fremdling

Es war zu Anfang dieses Jahrhunderts, also vor ungefähr fünfzig Jahren. Ich bewohnte dieses selbe Haus mit meinem Vater und war ein Kind von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Eines Tages bemerkte ich von der Höhe unseres Balkons aus einen Mann, der, wie es schien, zwecklos auf der Ebene umherirrte, oft querfeldein ging, ohne doch etwas zu suchen oder einem gewissen Ziele entgegenzugehen. Zu wiederholten Malen kam er auf dieselben Stellen zurück, ohne es zu bemerken. Am selben Nachmittage, auf einem Spaziergange, begegnete ich ihm; aber er ging in Gedanken vertieft an mir vorüber, ohne mich zu sehen, und als er mir einige Minuten später, bei einer Biegung, wieder im Wege stand, sah er unverwandten Blickes und mit einer unaussprechlichen Sehnsucht in die Ferne. Jede andere Erscheinung, die mir in dieser Weise begegnet wäre, hätte mich damals in meiner mädchenhaften Albernheit außerordentlich erschreckt; ich wäre vor ihr nach Hause gelaufen, um mich hinter meinem Vater zu verstecken. Dieser Fremde hingegen erfüllte mich mit einer Art von Mitleiden, die ich mir nicht erklären konnte. Es war nicht das Mitleid, das man mit einem Armen, Hilfsbedürftigen empfindet, obwohl er hilfsbedürftig genug aussah, denn seine Kleider waren in arger Unordnung, ungeputzt und hie und da sogar zerrissen. Es war ein gewisser edler Ausdruck des Schmerzes und dabei ein Aussehen, als wäre er mit seinem Geiste abwesend, irgendwo bei geliebten Personen in weiter Ferne, die bei seinem Anblick das Herz mit Mitleid und Sympathie erfüllten. Abends erzählte ich meinem Vater von dem Fremden. Er meinte, es werde wohl einer der zahlreichen Kriegs- oder politischen Gefangenen sein, die man halb und halb auf freiem Fuß und auf Ehrenwort in den inneren Provinzen Frankreichs leben ließ.

Tags darauf sah ich den sonderbaren Fremden wieder wie am ersten Tage durch die Felder irren und endlich sogar in unseren Park eintreten, welcher der Straße zu offen war. Er sah sich verwundert um und schien sich in dieser Umgebung bald zu behagen. Der große Rasenplatz in der Mitte, den Sie kennen, war damals nicht da; an seiner Stelle befand sich ein großes, mit einer hohen Balustrade eingefasstes Wasserbecken, und auf dieser Balustrade stand eine Gesellschaft von vierundzwanzig großen und kleinen griechischen Gottheiten, meist Kopien antiker Statuen oder anderer aus dem sechzehnten Jahrhundert. In der Mitte des Beckens, auf einem künstlichen Felsen, stand der Neptun des Giovanni da Bologna. Als der Fremde diese Göttergesellschaft erblickte, eilte er ihr mit großen Schritten in freudigster Begeisterung entgegen. Er hob die Arme in die Höhe, wie anbetend, und vom Zimmer aus schien es uns, als ob er in der Tat zu seinen enthusiastischen Bewegungen entsprechende Worte ausriefe. Dann ging er rings um das Becken, von einer Statue zur anderen, immer mit dem Ausdruck eines Kenners oder wenigstens eines Kunstliebhabers, und mein Vater wollte bemerken, dass er sich vor der Schönsten am längsten aufhielt. Mir machte es das größte Vergnügen, dieses Schauspiel zu belauschen, und auch meinen Vater schien es zu unterhalten. „C’est quelque original“, wiederholte er mehrere Male, während wir den Fremden beobachteten.

Sehr ärgerlich wurde ich, als ich in meinem Vergnügen durch einen garde champêtre gestört wurde. Dieser, der auch den Park meines Vaters zu bewachen hatte, stürzte plötzlich herein und auf den Fremden los, dem er, wie wir aus den Gebärden erkennen konnten, bedeutete, dass dies Privateigentum sei und dass er sich zu entfernen habe. Der Fremde aber lächelte, kehrte ihm den Rücken zu und ging zu einer anderen Statue. Der Flurschütz folgte ihm und bestürmte ihn mit Reden, die immer heftiger wurden, je weniger der Fremde darauf achtete. Endlich fasste ihn der Mann in seinem polizeilichen Eifer am Arm, um ihn mit Gewalt aus dem Parke zu ziehen. Mein Vater war ein einflussreicher Mann im Department, ein Freund des Präfekten, und hätte selbst Präfekt sein können, daher der Eifer des untergeordneten Beamten, sich ihm dienstfertig zu zeigen. Aber mit solcher groben Dienstfertigkeit war  meinem Vater nicht gedient. Beim Anblick jener Gewaltsamkeit eilte er sogleich hinaus und ich folgte ihm. Er verwies dem Wächter seine Art, schickte ihn fort und sagte zu dem Fremden, dass er sich nur nach Muße im Park umsehen solle.

Dieser, der die Derbheit des garde champêtre kaum bemerkt hatte, wandte sich sogleich zu meinem Vater und sagte lächelnd: “Die Götter sind keines Menschen Eigentum, sie gehören der Welt, und wenn sie uns lächeln, gehören wir ihnen. Sehen Sie diese Aglaia, wie sie mich anlächelt und mich gefangen nimmt; sie lächelt nicht ihrem Besitzer allein.“

„Es ist eine Pomona“, berichtigte mein Vater.

„Nein, es ist eine Aglaia“, erwiderte der Fremde mit Bestimmtheit und fuhr gleich fort: „Das Wasser hier sollte klarer sein, wie das Wasser des Kephissus oder die Flut des Erechteus auf der Akropolis. Es ist der klaren Götter nicht würdig, sich in dunklerem Spiegel zu sehen – aber,  “fügte er seufzend hinzu, „wir sind nicht in Griechenland.“

„Sind Sie ein Grieche?“ fragte mein Vater halb im Ernst, halb im Scherz.

„Nein! – im Gegenteil, ich bin ein Deutscher!“ seufzte der Fremde.

„Im Gegenteil?“ wiederholte mein Vater – „ist der Deutsche das Gegenteil des Griechen?“

„Ja“, antwortete der Deutsche kurz und setzte nach einiger Zeit hinzu – „wir sind es alle! Sie, der Franzose, sind es auch; der Engländer, Ihr Feind, ist es auch – wir sind es alle!“ Dann ganz meinem Vater zugewandt, sprach er noch viel, dessen ich mich nicht erinnere; auch des anderen, das ich eben mitgeteilt habe, würde ich mich wohl nicht so deutlich erinnern, wenn es nicht später in unserem Hause oft wiederholt worden wäre. So oft mein Vater nach dieser Zeit das Wasserbecken zu reinigen befahl, pflegte er scherzend hinzuzufügen: „Das Wasser muss klar sein wie das Wasser des Kephissus oder die Flut des Erechteus auf der Akropolis“ usw. Auch verstand ich nicht alles, was der Fremde sagte, abgesehen vom Sinn seiner Worte, denn er sprach ein sehr schlechtes Französisch mit einem höchst entstellenden Akzent, der mir viele Worte ganz unkenntlich machte. Meine Tante, die mich erzog, kam hinzu, und ich erinnere mich, wie ihr, die bei den Reden des Fremden große Augen machte, mein Vater zuflüsterte: „Er ist ein Deutscher, ein Original!“

Aber das Original gefiel uns allen sehr. Er war nicht schön und sah früh gealtert aus, obwohl er nicht mehr als dreißig Jahre gehabt haben mochte, aber er hatte ein glühendes und doch sanftes Auge, ebenso einen energischen, doch milden Mund; auch sah man ihm an, dass seine sehr herabgekommene Kleidung zu seinem Stande und seiner Bildung nicht im Verhältnis steht. Ich freute mich sehr, als ihn mein Vater einlud, uns ins Haus zu folgen. Er nahm die Einladung ohne Zeremonie an und legte im Gehen von Zeit zu Zeit die Hand auf meinen Kopf, was mich erschreckte und mir doch sehr gefiel. Mein Vater interessierte sich offenbar für den Fremden und hatte Lust, seine eigentümlichen Reden noch länger anzuhören, aber im Salon angekommen, ward er sehr enttäuscht. Der Fremde ging geradenwegs auf ein Sofa los und sagte: „Ich bin müde“, murmelte noch einige unverständliche Worte, streckte sich aus, schloß die Augen und entschlief sogleich.

Wir standen da und sahen einander erstaunt an. „Er ist verrückt“, lispelte meine Tante, aber mein Vater schüttelte den Kopf und sagte: „Er ist ein Original; er gefällt mir; er ist ein Deutscher.“ Der Papa schickte den Bedienten mit dem bestellten Wein wieder zurück und wir verließen den Salon, um den Fremden, der in der Tat sehr müde schien, allein und seiner Ruhe zu lassen. Ich sah von Zeit zu Zeit durchs Fenster; er schlief unausgesetzt bis gegen Abend. Als er erwachte, lud ihn mein Vater zu Tische. Er freute sich sehr an unserem Weine und wurde sehr heiter. Er erzählte vielerlei aus Deutschland und aus dem südlichen Frankreich und ich erinnere mich, dass er uns, trotz der Unbehilflichkeit seiner französischen Sprache, eine pompöse und höchst poetische Beschreibung des Meeres machte, das er bei Bordeaux gesehen hatte. Manchmal brach er mitten in seinen Erzählungen ab, als ob er fürchtete, dass er, fortfahrend, an unangenehme Punkte in seiner Lebensgeschichte gelangen könnte.

Meine Tante, wie sie ihn so sprechen hörte, bekehrte sich zu der Ansicht meines Vaters, dass wir hier nicht einen Verrückten, sondern ein Original zu Gaste hatten und horchte ihm mit wachsender Teilnahme zu. Sie fand, dass alles, was er sagte, sehr viel Wahres enthalte und manchmal sogar eine große Tiefe des Geistes verrate. Das Unverständliche setzte sie auf Rechnung seiner schlechten Aussprache und der Mangelhaftigkeit seiner Kenntnis des Französischen. Meine Tante war fromm und liebte es, über metaphysische Gegenstände zu sprechen, was sie „philosophieren“ nannte, und so lenkte sie das Gespräch auch auf solche Texte. Da sagte er sonderbare Sachen, ohne sich auf ihre Bibelstellen weiter einzulassen. Ich erinnere mich des Inhalts einer langen Rede, da sie die Tante selbst am folgenden Tage in ihr Album schrieb und ich sie später öfter lesen konnte. Der Inhalt war ungefähr folgender:

„ … Dies ist die Unsterblichkeit: Alles Gute, was wir schön denken, wird zu einem Genius, der uns nicht mehr verlässt und uns unsichtbar, aber in schöner Gestalt durchs ganze Leben begleitet, bis ans Grab. Von unserem Grabhügel aus nimmt er seinen Flug und gesellt sich zu den Heeren der Genien, die schon die Welt erfüllen und an ihrer Vollendung und Verklärung weiter bauen. Diese Genien sind Geburten, oder wenn Sie wollen, Teile unserer Seele, und in diesen Teilen ist sie allein unsterblich. Die großen Künstler haben uns in ihren Werken die Abbilder ihrer Genien hinterlassen, aber es sind nicht die Genien selbst. Es ist nur ihre Abspiegelung im Dunstkreis unserer Erde, wie sich die Sonne im See, nein im Nebel widerspiegelt. Die schönen Götter Griechenlands sind solche Abbilder der schönsten Gedanken eines ganzen Volkes. – So ist es mit der Unsterblichkeit beschaffen.“

Meine Tante, die gerne etwas über ihn selbst erfahren hätte und immer das Gespräch auf ihn zurückzuleiten suchte, fragte, vielleicht auch nur, um etwas zu sagen: „Glauben Sie, dass Sie auf diese Weise unsterblich sind?“

„Ich?“ sagte er barsch, „ich, der vor Ihnen sitzt? Nein! Ich denke nicht mehr schön. Das Ich, das vor zehn Jahren mein war, das ist unsterblich – allerdings.“ Und sich besinnend, fügte er bestätigend hinzu: „Ja allerdings, jenes Ich ist es.“

Mit all dem wussten wir nichts von ihm, von seinem Schicksal – wir wussten nicht einmal seinen Namen. Mein Vater fragte ihn einmal nach seinem Namen; da legte er den Kopf in beide Hände und antwortete: „Ich werde ihn Ihnen morgen sagen. Glauben Sie mir, es ist mir manchmal schwer, mich meines Namens zu erinnern.“

Das war nun wieder seltsam, aber wir hatten uns wunderbar rasch an die Eigentümlichkeit dieses Mannes gewöhnt, dass wir das alles so hinnahmen, als müsste es so sein. Es fiel keinem ein, diesem Unbekannten, diesem Geheimnisvollen gegenüber irgendein Misstrauen zu äußern, und trotz allem verging uns der Abend in einer gehobenen Stimmung.

„Allerdings“, sagte Papa zu der Tante, „glaube ich, dass dieser Mann im Geiste gestört ist, aber dieser gestörte Geist ist edel und von Natur groß und tief“.

Was mich betrifft, ich betrachtete ihn wie einen Propheten, wie einen wohltätigen Zauberer, und ich war sehr glücklich, dass ihn mein Vater, da es schon spät war und er nicht die geringste Miene machte, das Haus zu verlassen, einlud, bei uns zu übernachten. Meine Tante beeilte sich, ihm ein Zimmer zurecht zu machen, denn sie freute sich, noch mit ihm philosophieren zu können, und mein Vater nahm sich vor, ihn morgen geradeheraus nach seinem Schicksal zu fragen, das ein sehr unglückliches schien, und dann etwas für ihn zu tun – ihm auch, wie er meinte, in mancher Beziehung den Kopf zurechtzusetzen. Der Mann, sagte er, habe ein ungeheures Wissen, das man vielleicht noch nützlich verwenden könne.

Aber die Nacht sollte alle Pläne zunichte machen. Ungefähr eine Stunde nach Mitternacht weckte die hilferufende Stimme eines Bedienten, der eben von einem geheimen Ausfluge zurückkehrte und sich in seine Mansarde begeben wollte, das ganze Haus. Ich stürzte mit der Tante auf den Korridor, in demselben Augenblicke, da auch mein Vater seine Tür öffnete. Nach dem ersten Überblicke über den Korridor eilte mein Vater auf uns zu und drängte uns wieder in die Schlafstube zurück; doch hatte ich in einer halben Minute genug gesehen. Der Bediente lag auf der obersten Treppe, von seiner Furcht niedergeworfen; vor ihm stand der Fremde im sonderbarsten Anzuge. Er hatte das weiße Bett-Tuch um den Leib geschlagen, und da dies sein einziges Gewand war, hatte er etwas von einer griechischen Statue; in der linken Hand hielt er ein Licht, in der rechten einen alten Degen, ein schönes Kunstwerk der Waffenschmiederei des sechzehnten Jahrhunderts, das meinem Vater gehörte und gewöhnlich in der Stube des Fremden hing. Mein Vater nahm ihm die Waffe ab und führte ihn in das Zimmer zurück, wo er sich auf seinen Wunsch wieder ins Bett legte.

Ich saß zitternd in meiner Stube neben der Tante, die Tränen vergoss. „Der arme Mensch“, seufzte sie fortwährend, „er ist wirklich wahnsinnig. Ach wie schade, wie schade um soviel Geist, soviel Wissen und soviel Güte. Ja, gewiss, er ist auch sehr gut; selbst sein wahnsinniges Auge ist noch voll Güte.“ – So saßen wir da, bis der Papa eintrat und uns befahl, wieder zu Bette zu gehen; der Fremde liege in tiefstem Schlafe und es sei für diese Nacht gewiss nichts mehr zu befürchten. – „ Welch sonderbares Abenteuer“, sagte mein Vater achselzuckend, um sein Mitleid mit dem Fremden, der ihm nicht minder gefiel, zu verbergen.

Als wir des Morgens erwachten, ging der Fremde ruhig, aber mit traurig gesengtem Kopfe im Parke umher. Die Tante wollte ihm folgen, aber mein Vater hielt sie zurück. „Es ist besser“, sagte er, „man lässt ihn allein. Wenn er wieder kommt, will ich sehen, was zu tun ist.“ Er befahl uns auch, die Fenster zu verlassen. Wenn der Fremde eine Erinnerung an den Vorfall in der Nacht habe, müsse es ihm nur unangenehm sein, wenn er sich beobachtet wisse.

So ließen wir ihn allein. Er hielt sich diesmal nicht bei den griechischen Göttern auf, sondern ging langsamen Schrittes und offenbar sehr niedergeschlagen ins Gebüsch. Ein Arbeiter berichtete, dass er sich dort auf eine Bank gelegt habe. Da er aber durch Stunden nicht zum Vorschein kam, ging mein Vater, um ihn aufzusuchen. Er war nicht mehr im Parke. Vom Balkon und von den Fenstern durchspähten wir die Ebene – er war nirgends zu sehen. Mein Vater stieg zu Pferde und durchkreuzte die ganze Gegend. Der Fremde war und blieb verschwunden; wir haben ihn nie wiedergesehen.

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Brief Hölderlins an seine Mutter vor dem Eintreffen in Bordeaux

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Zitate aus Briefen Hölderlins aus Bordeaux an die Mutter

vom 28. Januar 1802: […] Wie wird mir der sichere, erquickende Schlaf wohl tun! Fast wohn ich zu herrlich. Ich wäre froh an sicherer Einfalt. Mein Geschäft soll, wie ich hoffe gut gehn. […]

NS. Der Brief hat sich um einige Tage verspätet. Der Anfang meiner Bekanntschaft ist gemacht. Er könnte nicht besser sein. „Sie werden glücklich sein“, sagte beim Empfange mein Konsul. Ich glaube, er hat recht.

und vom Karfreitag (16. April) 1802: […] Mir geht es so wohl, als ich nur wünschen darf! Ich hoffe auch das, was meine Lage mir gibt, allmählich zu verdienen und einmal, wenn ich in die Heimat wiederkomme, der wahrhaft vortrefflichen Menschen, denen ich hier verbunden bin, nicht ganz unwürdig zu sein. […]

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ANDENKEN (Gedicht von Hölderlin, um 1803)

Der Nordost wehet,
Der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.
Geh aber nun und grüße
Die schöne Garonne,
Und die Gärten von Bordeaux
Dort, wo am scharfen Ufer
Hingehet der Steg und in den Strom
Tief fällt der Bach, darüber aber
Hinschauet ein edel Paar
Von Eichen und Silberpappeln;

Noch denket das mir wohl und wie
Die breiten Gipfel neiget
Der Ulmwald, über der Mühl’,
Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum
An Feiertagen gehen
Die braunen Frauen daselbst
Auf seidnem Boden,
Zur Märzenzeit,
Wenn gleich ist Nacht und Tag,
Und über langsamen Stegen,
Von goldenen Träumen schwer,
Einwiegende Lüfte ziehen.

Es reiche aber,
Des dunklen Lichtes voll,
Mir einer den duftenden Becher,
Damit ich ruhn möge; denn süß
Wär’ unter Schatten der Schlummer.
Nicht ist es gut
Seellos von sterblichen
Gedanken zu sein. Doch gut
Ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung, zu hören viel
Von Tagen der Lieb’,
Und Taten, welche geschehen.

Wo aber sind die Freunde? Bellarmin
Mit dem Gefährten? Mancher
Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen;
Es beginnet nämlich der Reichtum
Im Meere. Sie
Wie Maler, bringen zusammen
Das Schöne der Erd’ und verschmähn
Den geflügelten Krieg nicht, und
Zu wohnen einsam, jahrlang, unter
Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen
Die Feiertage der Stadt,
Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.

Nun aber sind zu Indiern
Die Männer gegangen,
Dort an der luftigen Spitz’
An Traubenbergen, wo herab
Die Dordogne kommt und zusammen mit der prächt’gen
Garonne meerbreit
Ausgehet der Strom. Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen.
Was bleibet aber, stiften die Dichter.

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DIE VERANSTALTUNG IM SCHLOSS KILCHBERG

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hoelderlins-rueckkehr.txt · Zuletzt geändert: 2016/10/17 03:08 von admin
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